Das Löntschtal in Glarus

Conrad Meyer
Löntschtal in Glarus mit zwei Zeichnern, 1655
Feder und Pinsel in Blaugrau, weiss gehöht, 37,9 × 95,5 cm, Zentralbibliothek Zürich
Diese zusammengesetzte Zeichnung, zu der auch das Blatt rechts gehört, gelten als «Inkunabeln der Schweizer Landschaftsmalerei». Es sind dies die ersten künstlerischen Zeichnungen überhaupt, die in den Alpen entstanden sind und deren Landschaft zum Thema haben. Bis hierher – und auch weit darüber hinaus – galten die Alpen als unwirtliche Gegend, die es vor allem zu überwinden galt. Sie waren unheimlich und bedrohlich, nichts also, das man in der Kunst hätte darstellen wollen.
In den Niederlanden erwachte zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Interesse an der heimatlichen Landschaft als Motiv für die Malerei. Früher war die Natur, wenn überhaupt, bloss Hintergrund für biblische oder andere Geschichten, aber als eigenständiges Thema kam sie nicht vor. Es ist insofern kein Zufall, dass auch die Schweizer Bergwelt von einem Niederländer mitentdeckt wurde: 1655 unternahm der niederländische Landschaftsmaler Jan Hackaert (1628–1685) eine Reise in die Schweiz und legte dabei einen längeren Aufenthalt in Zürich ein, wo er sich mit Conrad Meyer anfreundete. Gemeinsam unternahmen sie zahlreiche Ausflüge an den See und ins Umland. Im Sommer wagten sie ihre bis dahin grösste und weiteste Künstlerreise, die sie in die Glarner Alpen führte. Gemeinsam zeichneten sie vor Ort die wilde Natur der Bergwelt und bannten so Gegenden aufs Papier, die noch nie zuvor von Künstlern betrachtet worden waren.
Auf dieser Tour ist die hier zu sehende grosse Ansicht des Löntschtals entstanden. Das ungewöhnlich grosse Format bildet ein eigentliches Panorama, und man kann Conrad Meyers Blickpunkt genau nachvollziehen und zusammen mit ihm den Kopf drehen. Links sehen wir Jan Hackaert zusammen mit dem jungen Malerschüler Johann Rudolf Werdmüller (1639–1688), wie sie ihrerseits auf einem Stein sitzen und die Gegend zeichnen.
Gesehen und gezeichnet ist hier ein Ort, der noch nie dargestellt wurde, ein Stück Wildnis. Es ist das Panorama eines wilden Flusslaufs, in dem keine zivilisatorischen Elemente auftauchen. Keine Stadt, keine Kirche, nicht einmal eine Strasse ist zu sehen, die als Ausgangspunkt hätten dienen können. Zum Hauptthema dieser äusserst anspruchsvollen Zeichnung machte Meyer eine Felsformation, die nach damaligem Verständnis unmöglich Vorlage für ein Gemälde sein konnte. Sie ist aber auch keine Detailstudie eines Baumes oder eines Felsbrockens, die er später in ein Bild hätte einfügen können, sondern sie zeigt ein ganzes Stück Landschaft, das durchgehend und bildmässig behandelt wurde. Vor diesem Hintergrund werden auch die beiden Zeichner zu einem Teil von ihr oder, anders gelesen, zu temporären Fremdkörpern, die mit ihrer Präsenz die Abwesenheit der Zivilisation und damit die schiere Wildheit der Natur noch verstärken.
Meyer war ein außergewöhnlicher Zeichner, der sich neben seinem alltäglichen und von Fleiss und Routine geprägten Schaffen in seiner Freizeit völlig Neuem und Unbekanntem hingab – technisch, inhaltlich, aber auch körperlich. Mögen seine Gemälde internationalen Standards vielleicht nicht immer gerecht werden, so zeugen gerade die Löntschtalblätter davon, wie modern und unvoreingenommen mutig er sein konnte. Bezeichnend ist, dass dieses Vordringen in die noch nicht gemalte Alpenwelt zusammen mit einem Niederländer geschah, einem Vertreter jenes Landes, das die damalige Landschaftsmalerei in neue Sphären hob. Dieser Kulturaustausch lieferte die Grundlage, aus der mit Entdeckergeist und einem genuin künstlerischen Interesse an Neuem und der Natur solch bemerkenswerte Zeichnungen hervorgingen, wie sie bis dahin noch nicht geschaffen worden waren – veritable Pionierarbeit.