Neujahrsblatt 1654

Conrad Meyer
Es bleib, was hin ist, hin; Verlurst [sic] ist oft Gewin, 1654
Radierung, 10 x 13,6 cm
Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung
Seit über 300 Jahren gibt die Zentralbibliothek Zürich, einst als Bürgerbibliothek gegründet, zum Jahreswechsel sogenannte Neujahrsblätter heraus. Diese Tradition geht auf Conrad Meyer zurück. Gemeinsam mit dem Dichter und Theologen Johann Wilhelm Simler veröffentlichte er 1645 das erste Neujahrsblatt. Meyer entwarf die Illustration, Simler verfasste die begleitenden Verse. Die meist belehrenden und moralisch geprägten Blätter richteten sich an die Zürcher Jugend.
Für das Neujahrsblatt 1654, gewidmet «Einer Tugend liebenden Jugend in Zürich», wählte Meyer eine narrative Szene: die biblische Erzählung von der Flucht aus Sodom – einer Stadt, die sinnbildlich für sittlichen Verfall und Sündhaftigkeit steht.
In Meyers Komposition steht die dramatische Flucht Lots im Mittelpunkt: Von seinen beiden Töchtern gestützt, rettet sich der altersgebeugte Lot aus der untergehenden Stadt. Seine Frau, dem brennenden Sodom zugewandt, ist bereits zur Salzsäule erstarrt. Über der Szenerie liegt ein düsterer Himmel, erfüllt von Rauch und Flammen. Die Landschaft ist vertraut gestaltet, was das biblische Geschehen in Meyers Zeitalter überführt. Am linken Bildrand unterbricht ein Bauer seine Feldarbeit und blickt erstaunt auf das Geschehen – eine Verdopplung des Zurückblickens und ein Kontrast zwischen Alltag und göttlicher Strafe. Sie referiert auf das Lukas-Evangelium, wo Jesus sagt: «Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.» (Lukas 9, 26) Und später, als vom Jüngsten Tag die Rede ist, heisst es: «Wer an jenem Tage auf dem Dach ist und seinen Hausrat im Haus hat, der steige nicht hinunter, um ihn zu holen. Und ebenso, wer auf dem Feld ist, der wende sich nicht um nach dem, was hinter ihm ist. Denkt an Lots Frau!» (Lukas 17, 31)
Meyers Neujahrsblatt dient einer Warnung vor den Folgen eines moralischen Verfalls und ruft zur Wahrung gesellschaftlicher Ordnung und bürgerlicher Tugenden auf – ganz nach dem Vorbild Lots.
Bis zu Simlers Tod 1672 gaben die beiden fast ununterbrochen die Neujahrsblätter heraus, Meyer setzte diese Arbeit bis 1684 fort. Zwischen 1668 und 1673 schuf Meyer auch Illustrationen für die Neujahrsblätter der 1660 gegründeten Winterthurer Bürgerbibliothek.
Für Nicht-Bibelfeste: Die Geschichte von Sodom und Gomorra
Die Städte Sodom und Gomorra waren berüchtigt für das sündhafte Verhalten ihrer Bewohner:innen, sodass Gott beschloss, sie zu bestrafen. Doch er wollte ihnen eine letzte Chance gewähren: Wenn sich wenigstens zehn anständige Menschen fänden, würde er die Städte verschonen.
Daraufhin schickt Gott zwei Engel in den vermutlichen Sündenpfuhl, wo sie auf Lot, einen frommen Neffen von Abraham, treffen. Doch die übrigen Bewohner:innen von Sodom bestätigen die schlimmsten Befürchtungen, und zur Strafe soll es Feuer und Schwefel über die Stadt regnen.
Einzig der gottgefällige Lot und seine Familie werden gewarnt und können aus der dem Untergang geweihten Stadt fliehen, unter einer Bedingung: Sie dürfen nicht stehen bleiben und zurückblicken. Während Lot und seine Töchter dieser Weisung folgen, kann seine Frau der Versuchung nicht widerstehen. Sie wirft einen letzten Blick auf die Stadt – und erstarrt im selben Moment zur Salzsäule.